Willst du. Das. Wirklich?, widerhallte in ihrem Kopf eine auf Metall kratzende, den zusammengesetzten Kehlen ehemaliger Lehrer entstammende Stimme. Nein, eigentlich nicht. Angewidert sah sie auf die Stelle, an der sie sich anmelden sollte; man bot ihr an, ihren Alias dort für sie einzufügen. Bastarde. Sie hasste sie alle. Die, die hervortreten würden, meldete sie sich bei der Stelle an und die, die im Schatten standen - die für die Existenz der Stelle verantwortlich waren.
Ihr Finger glitt und man zeigte ihr eine neue Stelle. Dort bot man ihr an, etwas zu sehen, das ihr gefallen könnte. Ihr Finger glitt, er wurde gesteuert - sicherlich nicht von ihrem eigentlichen Willen - aber er wurde doch gesteuert, denn er bewegte sich, und dem Fingerwerkzeug selbst wohnt wohl kein entscheidendes System inne, sponn sie, nur Muskeln und sich zusammenziehende Kupferfäden, und da weder sie den Finger steuerte und auch sonst niemand im Raum war, blieb schleierhaft, wer denn nun ihren Finger steuerte, jedenfalls wurde er gesteuert, denn er fuhr zur nächsten Stelle. Eine angenehme Sekunde verging, danach wurden ihr ein paar Dinge vorgeschlagen, die ihr gefallen könnten. Sie sah einige Menschen oder anderes, bunte Farben und Eindeutigkeiten oder rätselhafteres. Sie rief eines der Dinge auf und es wurde groß. / Etwa eine halbe Stunde später fragte sie sich, was sie gerade tat. Warum sah sie sich gerade diese Sache an. Warum. Schaust du. Das an. Sie konnte sich nicht erinnern, etwas aufgerufen oder angesteuert zu haben. Sie schaltete das Gerät aus. Dann schaltete sie es wieder an, es war gleich an und schlug ihr etwas vor, sie rief es auf. Hoch, runter, rechts, links; etwas bewegte sich angenehm, etwas langweilig auch, sie erwachte kurze Zeit später im Badezimmer und blutete am Arm. Sie versorgte sich und setzte sich an den Schreibtisch, um sich zu beruhigen. Ihre Brust schlug sehr schnell und es war bereits Nachmittag, die Sonne stand hoch am Himmel, aber sie hatte sich verletzt und darum sagte sie kurzfristig das Kaffeetrinken ab. Sie überlegte, was sie mit der gewonnenen Zeit anstellen sollte. Vielleicht an etwas arbeiten? Du sollst arbeiten, sagten die Lehrerkehlen. Aber sie empfand es kaum als Druck, das Arbeiten, oft machte es ihr sogar Spaß. Es war eher eine Befreiung, etwas zu tun, und selbst zu steuern war leichter, als die meisten Leute meinten, dachte sie sich. Sie ging hinaus in den Nachmittag und setzte sich in ein Eiscafé, in ein anderes, und besah ein paar Dinge, die ihr vorgeschlagen wurden. Ein Männchen saß an einem Tisch ihr gegenüber, sie glaubte, es habe sie eben angesehen, sie fand es hübsch, sie hielt es nicht aus, dass es ihr zugewandt saß, sie konnte ihren Blick nicht heben, war voller Stress. Mag es mich? Sie griff den Becher, und den Strohhalm zum Mund, ohne aufzusehen, mit der anderen Hand rief sie etwas auf. Das war zu viel gewesen. Sie verlor die Kontrolle und begoss mit Kaffee den Arm, den sie sich aufgeschlitzt hatte. Weißer Dampf stieg auf. Ihr Gegenüber kam ihr zur Hilfe und nahm den Strohhalm zwischen seine beflaumten Lippen, um die merkwürdige Flüssigkeit aufzusaugen, die nun aus ihrer Wunde stieg und die sie noch nie vorher gesehen hatte. Ich heiße Marlene, sagte der Junge. Sie starrte angestrengt auf einige Stellen und ließ sich von ihm weiter verarzten.
Später saß sie wieder in ihrer Wohnung und betrachtete ein paar seiner Stellen. Machst du gerade alles richtig?, fragten sie ein paar Lehrer. Sie antwortete nicht, aber sie schrie kurz auf, jemand hätte das mit ihrem Arm verhindern sollen. Der Junge lag tot auf ihrem Sofa, der Länge nach aufgeschlitzt. Sie begann mit der Zeremonie. Mittendrin brach sie ab, irgendwie fremdgesteuert, und fand sich einige Zeit später vor ein paar Dingen wieder. Sie konnte sich nicht erinnern, diese Dinge aufgerufen zu haben, aber sie waren recht interessant und sie betrachtete sie mit kindlicher Neugier. / Geht das immer so weiter?, fragte es sie. Sie wollte nicken, zuckte lächerlich, und schoss sich in den Kopf.
Wie ein Baby lag sie auf der Seite, mit angewinkelten Knien und dem Kinn an der Brust, im Bett, mit ihrer Katze, und streichelte sie sanft am Rücken. Die lag an Annas Oberschenkel gelehnt und starrte ins leere Zimmer. Beim Ausatmen trieb sie die Nase weit nach vorne, angestrengt, und dem Geräusch, dem Schnurren, das eigentlich Genuss und Einklang mit der Welt entsprang, lag dann etwas früher nicht dagewesenes, wiederkehrend schmerzhaftes und brüchiges bei. Gegen das Einatmen hingen offenbar weniger Widerstände im Körper der Katze, die Raumluft einzusaugen schien ihr angenehmer, als sie wieder ausstoßen zu müssen, aber merklich strömte nicht mehr das volle, beruhigende Gurren durchs nachttischlampenbeleuchtete Zimmer und übers Bett, das Geräusch, das Anna ihre lange Kindheit und Jugend über vernommen hatte, wenn ihr Lebewesen in zufriedener, beneidenswert sorgenfreier Art über einem Möbelstück sich ausgebreitet hatte.
Annas Vater arbeitete tagsüber und hatte nicht viel Zeit für die Katze, morgens und abends gab er ihr zu essen. Die Geschwister waren, wie Anna, bereits seit einigen Jahren ausgezogen. Die Katze genoss, dass Anna jetzt bei ihr war.
Ein Schreibtisch, eine kleine Lampe, das Bett und ein Schrank schliefen nun besitzerlos in dem Zimmer, in dem ansonsten nur noch wenig von dem war, womit Anna es einst eingerichtet hatte. Einiges hatte sie, anderes ihre Geschwister mitgenommen, wieder anderes hatte ihr Vater verbrannt oder weggeschmissen, weil es alt geworden war. An der Wand lehnte ein Bild von ihrem Bruder. Ein paar uralte Zeitschriften lagen daneben und auf dem Schreibtisch war Annas Koffer. Sie lag auf der Seite, das Gesicht im Kissen, wie ein Baby, und streichelte ihre alte Katze sanft am Rücken. „Du bist immer noch so schön“, sagte sie. Die Katze rührte sich nicht, schnurrte angestrengt. Sie genoss, dass sie nicht alleine war. Sie war, glaube ich, taub und würde bald sterben.
Gegen Ende Annas Kindergartenzeit oder zu ihrer Einschulung tauchte sie auf und lebte mit den Kindern. Anna jagte sie oder sie jagte Anna. Sie sprang im Garten herum und lag in der Sonne, oder saß am Fenster und besah die Welt, in die sie hineingeboren war. Heute war sie kaum noch draußen, außer, wenn Annas Mutter sie „lüften“ wollte, aber dann wartete sie vor der Tür und bewegte sich nicht von dort weg, bis sie wieder hineingelassen wurde. inzwischen hatte sie wohl Angst vor den Wiesen, die früher lebendig ihrs gewesen waren; jetzt war die Welt stärker als sie, 's waren all die anderen Dinge schneller als sie, der Wind blies stärker als früher und ihr Fell nahm ab. Sie genoss, wieder bei einem der Kinder im Bett zu liegen und schnurrte angestrengt und ein bisschen leiser als eben noch, sie schlief wohl ein, und die Heizung rauschte leise, weil sie ihre Temperatur im Raum noch nicht erreicht hatte.
„Du kannst ruhig aufhören zu schnurren. Du musst ja auch gar nicht so laut schnurren“, sagte Anna, während ihre Gedanken still aus dem Zimmer schwebten, wie eine Seele, und folgten dem Rauschen des Heizungsgetriebes hinab in den Keller, wo es gegen den Winter anarbeitete, und sie stellte sich vor, wie ihr Vater den Mann mit dem Öl bezahlt hatte. Wie lange ihre Mutter sie wohl nicht mehr hatte so daliegen sehen, mit angewinkelten Beinen, wie sie oft da lag, tagsüber in ihrer neuen Wohnung, die sie ihr nun Zuhause nannte. Bestimmt seitdem sie mich nicht mehr geweckt hat, und das muss Anfang der Grundschule gewesen sein, entfernte sie sich weiter. Die Katze hatte damals immer in ihrem Bett schlafen wollen, aber das hatte ihre Mutter nicht sehen wollen, Tiere im Bett, Anna hatte sich deswegen mit ihr gestritten. Anna setzte sich durch und die Katze durfte weiter bei ihr schlafen, nur ihre Mutter wollte sie dann nicht mehr wecken, sie ertrug den Anblick nicht. Sie blieb dann unten und kümmerte sich weiter um Tee und Brote.
„Ja, ist ja gut. Hör einfach auf zu schnurren. Mach das doch nicht nur für mich. 's tut dir doch so weh“, sagte Anna leise. Die Luft war wärmer geworden. Anna war mittlerweile nur noch selten zuhause; wie ein Baby lag sie mit angewinkelten Beinen in ihrem alten Bett, von dem sie nicht wusste, wer es an die andere Wand geschoben hatte, vielleicht ein Gast, aber da lag es nun. Das Getriebe im Keller hörte sie im Zimmer atmen, und draußen blies es kalt, die Heizung verbrannte bestimmt viel Öl. Ihr Vater war bei Freunden zum Kartenspielen. Die Katze starrte mit leerem Blick gegen die Wand und schnurrte kaum noch. Da begann Anna langsam zu weinen. Mit ihrer Hand fuhr sie über das Fell, nur zur Hälfte im Zimmer, sie war auch im lauten Wald draußen, durch den sie im Sommer gestreift war mit ihrem Bruder. Seine Zeitschriften schliefen auf dem Boden, ihr Koffer wartete auf dem Schreibtisch. Im Schrank hingen Hemden, die wohl niemandem der Familie mehr gehörten, sie hingen dort einfach und warteten oder schliefen. Als sie 14 oder 15 Jahre alt war, hatte ihr Vater den Schrank mit ihr zusammen gebaut. Oben im kleinen Fach hielt sie dann Zigaretten versteckt. Kurz fragte sie sich, ob ihr Vater das geahnt hatte, als er seiner Tochter den Schrank gab. Das Fach war viel zu schmal für Kleider, da passten nur Geheimnisse hinein. Das musste ihr Vater gewusst haben. Sie weinte, es floss ihre Wange herab. Sie wünschte sich, die Katze würde es bemerken und ihre Hand abschütteln, und mit dem Köpfchen nahe kommen und ihr die Tränen ablecken. Es wäre toll, wenn Katzen soetwas tun würden. Ihre Katze hatte wohl schon länger aufgehört zu schnurren und da, wo ich sie die Zeit über gestreichelt hatte, war ihr Fell warm. Die Heizung hatte ihren Soll erreicht und das Getriebe im Keller atmete etwas auf. Es flüsterte mir durch die Rohre noch etwas zu; dann verstummte es. Und meine Gedanken machten sich auf zurückzukehren und wieder ruhig zwischen meinen Schläfen zu atmen, und sie war wieder im Raum und lag mit zusammengezogener Brust, wie ein Baby. Das Tier lag starr an ihrem Oberschenkel. Ich ließ meine Hand einfach auf ihm liegen, die letzten Tränen versickerten im Kissen. Dann lauschten wir beide der Stille.
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